Unser Buchtipp:
Johannes Twaroch
Total indiskret

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Walter Kreuz Karlas Lauf gegen die RaumzeitExtrakt Mit einem Vorwort von Peter Miniböck. 14,85 € (A), 14,40 € (D) ISBN 978-3-902300-38-6 |
Buchinfo · zur Person · Rezensionen
Und wir? Ja, wir geben bald nur mehr ein leises Mmm von uns. Jetzt wird meine Geschichte beginnen. Und ich scheide in der Kraftlosigkeit meines Feldes, seelenlos glücklich. Gegen Unendlich konvergierend.
Eine Wiener Straßenbahnlinie, das laufende, fliehende, kratzende, boxende Mädchen Karla, das schweigt, was zur Folge hat, dass alle um Karla herum zu sprechen beginnen. Ungewöhnliche Begegnungen und immanente ‚Ereigniskoordinaten' lotsen uns in die Welt des Autors. In sprachlich einzigartiger Form, der man sich nicht mehr entziehen kann, hat man einmal zu lesen begonnen, führt Walter Kreuz durch ein ultimatives Denkspiel zwischen Sprache und Schweigen und nähert sich so in poetischer Form einer ‚Relativitätstheorie der Erinnerung'.
Hierhergeäthert, hierhergesaugt, die Einladung gilt allem, das fähig ist, ein kokettes Geschichtchen über sich selbst zu furzen. Zu mir gerutscht, zu mir gehutscht und nicht ein Söckchen lang zurück geschwungen, hereingekreidet, hereinfossilt, herein die Herren, die Damen ein, ein jeder ein, schnell noch die Letzten mir zur Mitte träge eingedrungen.
Alles oder nichts? Walter Kreuz hat sich für ALLES entschieden: Er nimmt die Sprache an sich und verfährt mit ihr, als ob sie immer schon ihm gehört hätte: Ein Bilderbuch ohne Bilder, nur aus Sprache ‚gemacht'..., schon befinden wir uns in einer Tarkowskischen ZONE des Außerordentlichen, nur Sprechbaren, Schreibbaren. [...] Denken Sie über das Leben nach. Was es ist. Und was es sein könnte. Öffnen Sie das Buch. Beginnen Sie zu lesen. JETZT!"
Peter Miniböck
Walter Kreuz, wurde 1958 in Wien geboren. Nach der Matura lösten Schauspielunterricht und experimentelle Theaterproduktionen einige Studienjahre der Mathematik, Philosophie und Kunstgeschichte ab. Die Gründung der Projektgruppe gecko-art im Jahre 1993 ermöglichte die unmittelbare Arbeit mit Menschen im Schnittpunkt Sprache – Hörspiel – Erzählen, aus welcher die literarische Tätigkeit hervorgeht. Angeregt wird diese Arbeit durch Mensch und Sprache in Extremsituationen, in Stadien des Übergangs, in primären Momenten der Erfahrbarkeit von Welt. Die Suche des Autors nach sprachlichen Äquivalenten für Ereignisse, Zufälle und Aporien mündet in nicht-lineare Texte, Paraphrasen und subtextalische Ebenen.
Künstlerische Meilensteine des Kunstschaffenden und Autors Walter Kreuz sind das preisgekrönte Sprachprojekt Out of Babel (Wien) mit mehr als 1000 TeilnehmerInnen in den Jahren 1999 bis 2001. EU-Projekte wie facing international, paraphrase (Wort und Spiel rund um das Unbenannte) oder loop pool (Circular Movie Making) finden in den Jahren 2002 bis 2006 statt. Der Schwerpunkt liegt auf Sprache, Hörspiel, Performance und Radiofeature (Ungarn, Slowenien, Tschechische und Slowakische Republik). Weiters entstehen Transkontinentale Hörspielbrücken zwischen Nigeria und Österreich, die im Museumsquartier Wien präsentiert werden. Um den öffentlichen Raum zwischen diesen Meilensteinen zu bespielen, konzipiert Walter Kreuz bewegliche Installationen, walking acts und Wortmaschinen wie das FlügelWortWerk (Winged Working Words), welches seit 2007 zufällige Wort- und Sprechfetzen des Alltags einfängt, Menschen vernetzt und deren Gedanken auf eine poetische Bühne hebt.
www.geckoart.at
Eigenvögel - Parallelwirklichkeiten. Ereigniskoordinaten. Textcollagen.
Lindenbaum und Weidenbaum. Eine Wiener Straßenbahnlinie. Eine 20-Jährige namens Karla Zelenku, die aus der neurologischen Abteilung einer Krankenanstalt flieht. Parallelwirklichkeiten. Ereigniskoordinaten. Textcollagen. Karlas Lauf gegen die Raumzeit lässt Raum für Assoziationen. Geschrieben in einer "sprudelnden" Sprache "äthert" diese Erzählung, die sich dem Erzählen auf spielerische Art verweigert, nur so "hierher".
Der Inhalt ist leicht zusammengefasst: Karla flieht aus der Psychiatrie und findet Zuflucht in einer Straßenbahn. Dort begegnet sie Achmed, einem Koch aus dem Nildelta, der gerade ein Gespräch mit seinen früheren Vermietern führt. Beim Aussteigen aus der Straßenbahn stoßen Karla und Achmed zusammen, wobei Achmed verletzt wird. Karla entflieht und verwandelt sich in mehrere Tauben ("Eigenvögel"). Ihr "Sprung" aus der U-Bahn wird durch eine Art "Sprung" in der Zeit gedoppelt, und eine Parallelwirklichkeit bildet sich aus. Darin verlässt Karla die Straßenbahn, ohne mit Achmed zusammengeprallt zu sein. Im Laufe der Reflexion der eigenen Geschichte, die Karla als verschiedene "Eigenvögel" vollzieht, fügen sich sowohl Karlas "Sprung in der Schüssel" als auch der Knacks zwischen den Parallelwelten wieder ineinander, und Karla und Achmed werden Freunde.
So leicht der Inhalt zusammenzufassen ist, so unwesentlich ist er im Vergleich zum Feuerwerk aus Spracharbeit, das der Autor Walter Kreuz in seinem "Extrakt" leistet. In der Einleitung bereits finden wir eine Definition der Medien Sprache und Sprechen. Sprache sei "Gedankenwiedergabe in Lauten oder anderen wahrnehmbaren Zeichen", heißt es. Diese Erläuterung hat sich der Autor zu Herzen genommen. Denn der Text lotet auf das Erfrischendste mit Phonetik und Grafik die verschiedenen Sprachbereiche aus: Eine Skizze zu Beginn des Buches veranschaulicht die diversen Dimensionen der Raumzeit; kursive Stellen an den Kapitelanfängen fassen die Geschehnisse zusammen; Fußnoten dienen der Erläuterung; Absätze im Textverlauf geben an, dass sich die Stimmen der sprechenden Personen ändern; lyrische und lautpoetische Momente werden durch kleine Texthäufchen gekennzeichnet; Links- und Rechtsbündigkeit helfen dem Leser festzustellen, in welcher Dimension er sich gerade befindet et cetera.
Die Spielerei mit den optischen Merkmalen der Zeichen wird noch gedoppelt durch gekonntes "Zusammenstöpseln" unterschiedlichster Klangebenen, wobei verschiedenste Sprechhaltungen und Stimmsounds in Karlas Lauf durchexerziert werden. Seien es die inneren Knarzklänge von Linde und Weide, die sich in Schubertzitaten gegenseitig besudeln, sei es der Monolog Karlas, die sich selbst aufgrund ihrer dissoziativen Störung mit "du" anspricht, sei es die Straßenbahn, die über ihre sexuellen Ergüsse reflektiert, seien es die Götter, die am Ende auftreten – der rhizomatisch angelegte Text wechselt ständig die Sprechhaltungen und somit seine Klänge.
Walter Kreuz verwebt die unterschiedlichsten Ebenen gekonnt zu einem Text. Dass der Autor nicht nur Mathematik und Philosophie studiert hat, sondern auch im experimentellen Theater als Schauspieler arbeitete, verwundert kaum. Das Feuerwerk der Sounds von ihm selbst gelesen zu erleben, wäre eine spannende Angelegenheit.
Sophie Reyer (Literaturzeitschrift Schreibkraft, Schreibkraft 19/2010)
Können Sie sich noch an den 16. Dezember 2000 erinnern? Was haben Sie am Nachmittag gemacht? Waren Sie zufällig in der Nähe der Donauinsel oder des Heustadlwassers? Ist Ihnen vielleicht etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Kam Ihnen die Gegend nicht nur winterlich unwirtlich, sondern auch ein wenig unwirklich vor? Ist die Zeit vielleicht ein kleines Bisschen aus den Fugen geraten? Haben Sie in den zwei Stunden zwischen 15.34 und 17.34 etwas nicht ganz Alltägliches bemerkt? Sind Sie jemandem begegnet? Vielleicht einer etwa 20-jährigen jungen Frau, die seltsam gehetzt wirkte? Ja? Das könnte Karla gewesen sein, dann hätte sich die schweigende Protagonistin aus Walter Kreuz' Extrakt "Karlas Lauf gegen die Raumzeit" doch tatsächlich aus ihrer Buch- und Parallelwelt in die Wirklichkeit extrahiert, auf ihrer Flucht aus der Neurologischen Abteilung III der Krankenanstalt St. Johann-Stiftung in Wien-Erdberg.
Bei Walter Kreuz' Prosa – ist es denn Prosa? – versagen herkömmliche Gattungsbegriffe und literarischen Beschreibungskategorien. So nennt der Autor "Karlas Lauf gegen die Raumzeit" denn auch einen "Extrakt", einen Auszug also aus realen und Gedankenwelten. Der Plot ist schnell umrissen: eine junge Frau, Karla eben, flieht aus einer Wiener Nervenheilanstalt und schlägt sich durch die Stadt, ein wenig umgestüm, verzweifelt auch. Ergebnis: zwei Verletzte. Karla sagt nichts dazu. Die Umwelt fragt sie nichts, auf das sie eine Antwort wüsste. Karla schweigt, dafür reden alle und alles um sie herum für sie und auf sie ein. In einer Art Fantasy-Pananimismus ist die gesamte Welt beseelt und spricht: Eine Linde (Tilia grandifolia), eine Weide (Salix Alba), ein mittelschweres Eisentor, eine Wiener Straßenbahngarnitur, Stadt und Stadtteil und auch ganz körperlose Wesen wie der Nachmittag, ein Geräusch, ein Sprung der Protagonistin aus dem Straßenbahnwaggon – Gegenständliches und Abstraktes, alle haben was zu sagen. Auch ein paar Menschen kommen zu Wort, gleichberechtigt in der Menge, nicht bevorzugt vor dem Unbelebten, erst am Ende darf nur noch weiterreden, wer über Leben und Gehirn verfügt.
Mehrsprachig, multikulturell und vielstimmig ist der "Extrakt", die Erzählposition wird stets nach ein paar Sätzen weitergegeben wie das Holz nach einem Staffellauf. Dabei wird meist gar nicht im eigentlichen Sinne erzählt, sondern eher zugerufen, zugesprochen, reflektiert und kommentiert, und das in durchaus eigenwilliger Lexik und Grammatik. Die sprechenden Elemente werden bei Auftreten nicht explizit benannt, geben sich aber in den ersten Sätzen – nicht zuletzt durch sprachliche Eigenheiten – zu erkennen und sind auch durch einen mehr oder weniger unverwechselbaren Stil gekennzeichnet. (So zeigt die Straßenbahngarnitur eine gewisse Vorliebe für Exkurse ins Italienische). Die deutsche Sprache liefert hier lediglich das Rohmaterial, wird zurechtgedrückt und zurechtgebogen, manchmal nahezu bis zur neologistischen Unkenntlichkeit. Walter Kreuz verwendet Laute und Silben und formt sie nach Lust und Laune, wie man Figuren aus Ton modelliert.
Es ist aber keine beschädigte Sprache, kein beschädigtes Erzählen, kein Sich-nicht-mitteilen-Können, das hier vorgeführt wird, ganz im Gegenteil. Da will einer experimentieren, was das Zeug hält, da will einer das Unerzählbare erzählen, und trotzdem noch verstanden werden. "Ereigniskoordinaten" verankern die Szenen in Handlung, Raum und Zeit, eine mehrdimensionale schematische Darstellung von Karlas Lauf bietet zusätzlich Orientierung in Welt und Parallelwelt. Außerdem stellen einleitende Zusammenfassungen des Geschehens und – sprachlich ganz traditionell gehaltene – kommentierend-erzählende Fußnoten nützliche Lesehilfen dar. Die Eckdaten der Handlung sind weniger aus dem Fließtext abzulesen als aus den Textbausteinen rundherum. Und auch das Layout hat nicht nur ästhetisch-funktionale, sondern auch eine gewisse Code-Funktion, wie die Leser/innen schon zu Beginn erfahren: Das Initialwort eines Absatzes steht im Fettdruck, wenn ein Sprecher oder eine Sprecherin sich erstmals in einem Kapitel meldet, rechtsbündig erscheint die Parallelwirklichkeit, Gedankenreise und Rückblenden sind zentriert gesetzt.
Von Szene zu Szene wird es kakophoner: Laufend tauchen neue Redner auf, ohne dass die alten dadurch verstummen würden. Karla schwirrt es wohl zunehmend im Kopf. Kein Wunder, dass sie so unvorsichtig aus dem Straßenbahnwaggon springt, dass sie mit dem ägyptischen Wiener und Bald-nicht-mehr-Lokalbetreiber Dr. Achmed Ashrawi zusammenstößt und ihm einen Finger bricht. Das macht aber weiter nicht viel, denn erstens ist Achmed nicht wehleidig – und zweitens gibt es neben der Wirklichkeit ja auch noch die "Quirklichkeit". "Was wäre wenn" wird zur realen Möglichkeitsform, in einer spontan sich bildenden zweiten Raumzeit geht's auch ohne Missgeschick, und schon ist Achmeds Finger wieder ganz.
Bei Walter Kreuz geht es zu wie in den wildesten Fantasy-Geschichten. Nix is fix, alles ist möglich. Zeit und Raum sind keine Konstanten, ganz im Gegenteil: unsere gewohnte Raumzeit leidet unter akuter Strukturschwäche, was auch zur Folge hat, dass nichts dagegen spricht, wenn zwei Bäume und ein mittelschweres Eisentor ein Geschehen kommentieren, das sich fern von ihnen abspielt. Und wen erstaunt es noch, dass sich der Liebesakt einer Straßenbahntriebwagengemahlin mit ihrem Beiwagengatten keineswegs in der Parallelwelt, sondern einfach in der Wehlistraße abspielt, und auch noch ein Liebesfunke überspringt in die nächstbeste Zinskaserne, auf dass einander Menschenweibchen und Menschenmännchen ebenso glücklich machen wie die Materie? In der Parallelwelt Literatur – wer möge dies bezweifeln – ist schließlich alles möglich.
Sabine Dengscherz (Buchmagazin des Literaturhauses, November 2009, www.literaturhaus.at/buch/buch/rez/Kreuz_Raumzeit)
Karla flieht aus einer Krankenanstalt in Wien-Erdberg. Karla läuft und läuft, sie begegnet Menschen, Menschen begegnen ihr. Karla boxt und kratzt, Karla schweigt und spricht. Auch andere Menschen, vor allem Thommy, Mammu, Beth, Achmed, sprechen. Sie sprechen über Karla, über sich, über andere und miteinander zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Kontexten, an unterschiedlichen Plätzen in Wien.
Die Vielzahl der Erzählpositionen fordert und führt in jeweils neue Denkmuster, neue kulturelle Kontexte und neue Zeiten. Außergewöhnliche Sprachkreationen einerseits und ausführlich informative Erklärungen (Fußnoten!) regen an, das Gelesene zu überdenken und zu ordnen, sodass sich in dem ständigen Wechsel zwischen Vergangenem, Gegenwärtigen und Zukünftigen jeweils neue Raum-Zeit-Fenster öffnen, in denen zu verweilen es sich lohnt.
Doris Wilfinger> (KORSO, November 2009)
"Ein ungewöhnlicher Roman eines österreichischen Autors" - Auszüge aus der Buchbesprechung durch Martin Oberlechner und Andi Augustin
Andi Augustin: " (...) Das Buch ist die Geschichte des "schweigenden Mädchens" Karla, die sich auf der Flucht befindet bzw. vor etwas davonläuft –- wovor, wird erst nach und nach aufgeschlüsselt. Während diese besagte Karla schweigt, beginnt alles und jedes um dieses Mädchen herum zu denken und zu sprechen und fließt dann in diese Erzählung ein (...). Teilweise ist das eine sehr abstrakte Erzählform, die der Autor hier wählt,– bzw. erfindet der Autor auch immer wieder eigene Ausdrucksformen."
Martin Oberlechner: "Du hast schon erwähnt, es ist eine sehr abstrakte Erzählform. Macht so etwas überhaupt Spaß zum Lesen?"
Andi Augustin: "Es ist sehr gewöhnungsbedürftig, wenn man überrascht wird. Ich habe über das Buch überhaupt nichts gewusst und musste mich erst einige Seiten einlesen. Dann wird's aber sehr spannend und sehr interessant (...) Man sollte sich wirklich Zeit nehmen und konzentriert lesen (...)"
Martin Oberlechner: "Gehen wir gleich in medias res, und du liest uns einfache eine Seite vor."
Andi Augustin: " (...) Um vorher noch eine Besonderheit zu erwähnen: Das Buch ist nicht in Kapiteln unterteilt, sondern in "Ereigniskoordinaten", die da angegeben sind, das ist auch eine witzige Eigenschaft, und da steht dann zum Beispiel 16. Dezember 2000, 16.00 Uhr, Länge 16 Grad 25 Minuten 49 Sekunden (...). Ich lese eine Passage vor, in der eine Wiener Straßenbahn ihre Gedanken vorträgt (...)
Martin Oberlechner: "Diese Sprache, die du da gerade vorgelesen hast und interpretiert hast, klingt ja (...) fast schon wie Lyrik."
Andi Augustin: "In diesem Fall schon, aber es ist nicht eine durchgängige Sprache, die der Autor verwendet. Es gibt durchaus auch abwechslungsreiche Sprachwahlen, und der Autor wählt in anderen Passagen des Buches durchaus wirklich experimentelle Sätze und Wortfetzen,– sag' ich mal. Er beginnt dann auch Worte zu verändern, zu verstümmeln, zu kürzen, zu wiederholen (...)"
Martin Oberlechner: "Für wen ist eigentlich dieses Buch, denkst du? Wer könnte dieses Buch lieben?
Andi Augustin: "Es ist vom Prinzip her ein Buch, das für Leute, die sich grundsätzlich für Sprache interessieren und für das, was man mit Sprache alles anstellen kann, interessant sein könnte. Ich würde einmal als Beispiel einen Ernst Jandl nehmen mit seinen Sprachgedichten, (...) teilweise tendiert das in diese Richtung. Es ist wirklich einmal etwas ganz anderes als man sonst gewohnt ist. Es ist keine Erzählung im eigentlichen Sinn, sondern eine Aneinanderreihung von sehr vielen Begebenheiten und Gedanken (...)"
Kulturschiene (Orange 94.0, das Freie Radio in Wien, Juli 2009)
Selten noch war der an sich komplexe Einstieg in das scheinbare Kontinuum der physikalisch-universellen Ereignisse so bunt, so schillernd, so vielfältig und so vergnüglich zu erlesen. Der Schriftsteller, Sprach- und Performancekünstler Walter Kreuz hat mit "Karlas Lauf gegen die Raumzeit" ein tiefsinniges Kaleidoskop eines Miniuniversums geschaffen.
Worum geht es? Ein möglicherweise, wie man wohl heute sagen könnte, verhaltensoriginelles Mädchen - Karla - bricht aus der Psychiatrie aus, quetscht sich durch eine quietschend-pittoreske Gartentür und beginnt einen atemlosen Lauf durch die Gefilde des zweiten Wiener Gemeindebezirks - entlang der mittlerweile eingestellten Straßenbahnlinie 21. Und an diesem Ausbruch ein- und aufgefädelt erheben die Dinge, die Ereignisse, die "Wesenheiten" um Karla herum ihre Stimmen. Beginnen zu sprechen, zu klagen, zu jubilieren, zu philosophieren und sogar amtszuhandeln. Sei es die Linde am Heustadelwasser, sei es der Nachmittag, das Wiener Lüfterl, oder die eingangs zitierte Gartentür, sie alle werden zum Leben erweckt und finden zu Worten, zu Lauten, zu Äußerungen, zu artikulierter Poesie.
Walter Kreuz gelingt das Kunststück, diese verwirrende Kakophonie in einfühlsamen Farben zu malen, jedem "Etwas" eine unverwechselbare Art der Mitteilung zuzuweisen und es damit zu einer Persönlichkeit zu erheben, die schrullig, listig, witzig aber auch traurig, einfühlsam und anklagend sein kann.
Und damit niemand in den sich spaltenden Paralleluniversen verlustig geht, hat er auch dankenswerter Weise eine amüsante Gebrauchsanleitung beigepackt, die auch solchen Menschen, welche sich nur mit dumpfem Grauen an ihre früheren Kenntnisse der Physik und der Kosmologie erinnern, einen spielerischen Einstieg ermöglichen. Dass er dann nebstbei auch mit einer gehörigen Portion Witz den Wissenschaftssprech und Amtsgeschäftigkeit gründlich auf die Schaufel nimmt, erweitert das Lesevergnügen. Auch eine im Berichtsstil verfasste Kurzeinleitung zu jedem Kapitel und die in wissenschaftlicher Betulichkeit verfassten teils hoch seriösen Fußnoten lassen einem das Buch kurzweilig und fast atemlos erlesen.
Immer wieder viel Musik und Rhythmusgefühl in den verwendeten Spracharten, ein traumwandlerisch sicheres Gespür für den Wechsel aus Gag und berührender Poesie, das zeichnet "Karlas Lauf gegen die Raumzeit" aus. Und so wandeln wir fließend vom "straßenbahnalen" Koitus zur bewegenden Gedichtpassage - ohne dabei als Lesende überrumpelt oder übergangen zu werden.
In Summe: ein souveränes Spiel mit vielen Möglichkeiten der Sprache, ohne dabei manieristisch oder aufgesetzt zu wirken. Und viele, äußerst bewegende, poetische Zeilen inmitten von sowohl Leichtigkeit als auch Bedeutung. Und dann, plötzlich, beim Spazieren durch die Stadt, erheben auf einmal mehr und mehr Dinge rund um mich ihre vielfältige Sprache. So kam es mir jedenfalls vor, nach der Lektüre.
Tristan Jorde (kulturwoche.at)
Es ist wohl merkwürdig wenn ein Schriftsteller zu Beginn seines Druckwerkes vom Schweigen schreibt, und zuerst dem Schweigen Energie zuweist, und dies dann zu einem Häufchen Restenergie reduziert. Sogar dieses Häufchen wird durch das Schweigen des Schweigens, wie ich meine des VERschweigens, ausgelöscht. Die Idee eines Satzes der Erhaltung der Sprachenergie. Ja, wenn es ihn gäbe sind die etwaigen Folgen anders zu erfahren als die entsprechenden Anmerkungen in den Überlegungen in der Startposition von Walter Kreuz. Zu dem Begriff Lauf (Seite 11) wäre noch auf die Verwendung eben dieses in den Schriften und Vorträgen von Oswald Wiener hinzuweisen. Freilich läuft Karla, das Mädchen oder die junge Frau, als Titelheldin durch das Buch bis zum Schluss, an dem sie ihren wohlverdienten Pfefferminztee trinken kann. Lassen wir uns aber nicht durch die theoretischen Überlegungen des Autors soweit beirren, dass wir den Sprech des "Extraktes" als etwas, was Schweigen beinhalten könnte, auffassen, es gibt darin nichts Verschwiegenes, außer wir Leser verschweigen uns selbst etwas, wenn uns aus dem Text etwas anspringt, was wir nicht so gerne in unser Bewusstsein bringen. Mir erscheinen diese 179 Seiten als ein vielleicht nicht nur von mir ersehnter Lichtblick in der Österreichischen Literatur des Anfangs des 21. Jhdts. Kreuz hat eine lange Beschäftigung mit Sprache und Sprech-performance in der Öffentlichkeit seit sehr vielen Jahren vollzogen und sich mit den entsprechenden internationalen Strömungen ausgezeichnet vertraut gemacht. Mir scheint, dass hier ein Autor die wesentlichen Traditionen der modernen Poesie und Prosa in einer gänzlich neuen und unbefangenen Weise weiterführt, wir haben in der deutschen Sprache ohnehin wenig hergebrachtes, angefangen von Jean Paul, DADA, Arno Schmidt, der konkreten Dichtung nach 1945, Ernst Jandl, Marc Adrian, Teile der Arbeiten der sogenannten Wiener Dichtergruppe, oder auch des Rezensenten. Ich will auch Marianne Fritz in diesem Zusammenhang erwähnen. In der englischen Literatur gibt es dafür einen wesentlich stärkeren Strom, angefangen von Laurence Sterne, Lewis Carroll, Gertrude Stein zu James Joyce, Samuel Beckett, Kenneth Patchen, und einigen der zeitgenössischen Schriftsteller. Die Zusammenhänge zwischen der Schmidtschen Methode, Geschichten im Dialog zu erzählen und dem Kreuz-Extrakt wären noch ins Detail nachzuvollziehen, als Hinweis für manche Seminararbeit an einem entsprechenden Universitätsinstitut. Der Haupttext des Extraktes besteht doch aus Mono- und Dialogen. Kreuz gliedert sein Extrakt in diverse "Ereignis-koordinaten", die zeitlich und räumlich festgelegt werden. In diesen Kapiteln, die von der Sprache, von der internen Bewegung und auch vom Lay-Out jeweils ganz speziell geprägt werden, führt uns Kreuz in die Fluchtwelt der Karla, deren persönliche Geschichte sich allerdings nur ganz langsam in den 16 Ereignis-koordinaten entfaltet und deren Verschränkung mit einer Reihe von anderen Personen, die auch Bäume oder Möven sein könnten oder können. Eine Hauptrolle spielt die Straßenbahnlinie 21 mit ihrer Umgebung im Nordosten der Stadt Wien. Es ist aber nicht diese Fluchtgeschichte aus einer eher entsetzlichen familiären Situation, die uns dabei so interessieren könnte, sondern die große Fülle der Sprachspiele, der Worterfindungen, der teilweise gereimten Sprechmusiken, des ständigen Changierens von Subjekt zu Objekt usw., oder knalltrockener oder tief ironischer Feststellungen. Ein Beispiel: "Jeder zweite Winkel ist das Denkmal einer stillen Verzweiflung. Jeder erste ein Überlebenswille." Es gab in den 70er bis 80er Jahren österreichische Literaten wie Wimmer, Herbst, Czernin, Hell, Steinbacher, Jaschke oder Schmatz, aber ich kann mich in den letzten 10 Jahren an keine Arbeit der genannten erinnern, die mich in ähnlicher Weise angesprochen hätte. Wünschen wir dem Autor die Möglichkeit, diesen Extrakt mal mit allen anderen bereits erarbeiteten Textteilen in einer wesentlich umfänglicheren Auflage zu bündeln.
Hermann J. Hendrice (journal - LITERATUR PRIMÄR)
"... Das Buch ist ein Verwirrspiel zwischen Sprache und Schweigen und ist ein hochpoetisches, zugleich aber auch radikales Buch geworden. Die tiefen Töne von "Bassinstinct" werden der Grundstimmung des Buches mehr als gerecht ..."
Alfred Krondraf (Concerto 1/2009)
"Schräge Leseperformance im Atelier 3A - Walter Kreuz ist ein begnadeter Sprachkünstler, ein Buchstabenjongleur, der in Erstaunen versetzt. Er zerlegt Worte, spielt mit ihnen, lässt sie auf Reisen gehen und neue Bedeutungen erproben. Er spielt mit den Zeiten, lässt turbulent Zukunft und Vergangenheit sich vermischen. Dem Zuhörer kann da nur der Mund offen bleiben, vor Erstaunen, über den außergewöhnlichen Hörgenuss ... Zum Nachlesen: "Karlas Lauf gegen die Raumzeit" ... sehr empfehlenswert! ... "
Christine Kainz (Autorin und Fotografin, Jänner 2009)
Karlas Lauf gegen die Raumzeit / (k/m)eine Rezension
Da schreibt man einem Autor ein paar Gedanken zu seinem Werk, will er gleich eine Rezension. Na gut, vielleicht, später einmal, sagt/schreibt man da und hofft dass er es vergisst.
Blöd nur, wenn man es selbst nicht vergisst, dauernd dran denkt. Warum schreibt man dann denn / denn dann keine Rezension?
Weil man so was nicht kann? Weil man nicht weiß, was eine Rezension eigentlich ausmacht?
Ist ja egal, sagt man sich, schreibt man eben (k/s)eine Rezension.
Karlas Lauf gegen die Raumzeit. Von Walter Kreuz. Ein Extrakt. Was ist das überhaupt, ein Extrakt?
Passt aber irgendwie. Es ist nicht wirklich ein Roman, es ist keine Novelle.
Wenn Walter Kreuz vorliest, im Rahmen einer Buchpräsentation ist es ein Gesamtkunstwerk. Auszugsweise. Weil es einen Zusatzgewinn bringt, dem Kreuz beim Lesen zu sehen und zu hören.
Beim Selberlesen kann man dafür das Tempo bestimmen, noch mal nachlesen, etc. was auch seine Vorteile hat.
Man findet- ganz subjektiv, natürlich- das Buch auch beim Selberlesen spannend und witzig. Obwohl man es einfacher gefunden hätte, wenn über/bei den einzelnen Wort-Meldungen dabeisteht, wer da gerade redet/denkt/sprachfließläßt. Denn bei ca. 10 - 20% der Meldungen, tut man sich - ganz subjektiv, natürlich - schwer, diese einer Seinsform zuzuordnen - aber irgendwas zwingt einen immer, an Inhalt, Ausdruck, Redewendungen etc. erkennen zu wollen, wer das jetzt von sich gibt, und das strengt einen an, und das taugt einem nicht so 100%ig.
Und obwohl, oder vielleicht gerade weil man keine Ahnung hat, wer/wie/was eine Rezension sein soll, denkt man, dass man abstrakter werden sollte.
Die Form, wie da Absatz für Absatz jemand Sprache von sich gibt, ohne dass man lesen kann "die Karla denkt: xxx"; "der Thommy sagt: xxx"; "Weide: xxx"; "Linde: xxx" ist ja nicht so wichtig, wie die Tatsache, dass da Absatz für Absatz Gedanken zu Sprache werden.
Hier sollte man in der Rezension zwischen Form und Inhalt bockspringen, und nach/zurück/wiederholen, wie sich einem der Inhalt im Nachhinein darstellt:
Ein Mädchen flieht nicht ohne Grund aus einer psychiatrischen Abteilung, in der sie nicht ohne Grund gelandet war. Weil der Autor an den Satz von der Erhaltung der Sprachenergie glauben will, bringt Karlas lautes Schweigen die Dinge zum Sprechen. Sprache springt/dringt in Linde, zu Weide, auf Nachmittag, zu Westwind und diversen Wiener Straßen. Die Wiener Straßen zwischen Schwedenplatz und Prater zu kennen erleichtert die Empathie mit der Geschichte, ist aber nicht zwingend erforderlich, findet man, wenn man in einem Wiener Randbezirk aufgewachsen ist, der nicht im Buch vorkommt, und sich nie für Wien an sich interessiert hat.
Karla springt inzwischen in eine Straßenbahn (weiblich) die, von Sprache infiziert, später recht erotisch mit ihrem angegatteten Beiwagen (oder wie so ein Anhänger heißt) kuppeln wird. Sprache dringt/springt vom kleinsten (Semmerl) zum größten (Donaustrom/Zeitgefühl/Mitvergangenheit).
Weil man trotz aller Liebe zum Experiment doch auch sein einfaches Gemüt gießen und hegen will, freut man sich, dass neben Karla auch Menschen wie Tommy, Beth und Herr Achmed in der Straßenbahn mitfahren und neben Sprache auch Handlung tragen.
Als Karla beim Aussteigen zu heftig auf Tommy springt, dem Sprung das peinlich ist und durch das Rückgängigmachen des Sprungs einige Seiten und Kapitel lang neben der Realzeit auch eine Parallelzeit herumwuselt, in welcher der Sprung nicht misslungen war, freut man sich, dass Form und Inhalt hier perfekt harmonieren.
Weil die Parallelzeit rechtsbündig gedruckt ist, und die Normalzeit linksbündig (was einem in normal ja nie auffällt, weil es so normal ist), ist einem – ganz subjektiv, natürlich – völlig klar, auf welcher Ebene man gerade liest. Ah, denkt man sich, das wäre eine Möglichkeit gewesen, die einzelnen Sprachsprecher zu unterscheiden: unterschiedliche Schriftgrößen, Schriftformen, Schriftarten. Und während es für Karla, Herrn Achmed, Tommy und Beth sogar so was wie ein Happyend gibt und Karla ihre Eindrücke zum Ausdruck bringen kann, fällt das Tausendste zum Hundertsten langsam in Schweigen zurück.
Hier setzt man einen Schlusspunkt, der als Klammerausdruck hinter Herrn Achmed Klammer auf doch zu lange geworden wäre:
(ja, sehr wohltuend multikulti ist das Extrakt, zeigt eindrücklich ausdrucksstark, wie viel Sprachreichtum Wien immer noch und immer wieder durch seine türkischen, polnischen, tschechischen, italienischen, südslawischen und sonstigen Neubelebungen gewinnt)
Mag. Christian Karner-Schwetz (11. Dezember 2008)